Der Norddeutsche Bund vereinte von 1866 bis 1871 alle deutschen Staaten nördlich der Mainlinie unter preußischer Führung. Er war die geschichtliche Vorstufe der mit der Reichsgründung verwirklichten kleindeutschen, preußisch dominierten Lösung der deutschen Frage unter Ausschluss Österreichs und der bisher die gewählten deutschen Kaiser dominierenden Habsburger. Der ursprünglich 1866 als Militärbündnis angelegte Bund erhielt mit der Verfassungsgebung am 1. Juli 1867 Staatsqualität.
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes entsprach weitestgehend der des Kaiserreichs von 1871: Einem vom Volk gewählten Reichstag stand ein Bundesrath gegenüber, der die Regierungen der Mitgliedsstaaten (meist Herzogtümer) vertrat. Zur Verabschiedung von Gesetzen mussten beide zustimmen. Oberhaupt des Bundes war der preußische König als Inhaber des Bundespräsidiums. Verantwortlicher Minister war der Bundeskanzler. Der konservative preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck war der erste und einzige Kanzler in den wenigen Jahren des Norddeutschen Bundes.
Der Reichstag des Norddeutschen Bundes bereitete mit seinen zahlreichen modernisierenden Gesetzen zu Wirtschaft, Handel, Infrastruktur und Rechtswesen (darunter dem Vorläufer des heutigen Strafgesetzbuchs) wesentlich die spätere deutsche Einheit vor. Einige der Gesetze wirkten bereits vor 1871 über den deutschen Zollverein in den süddeutschen Staaten. Allerdings war die parlamentarische Kontrolle über den Militärhaushalt noch begrenzt, obgleich die Militärausgaben 95 Prozent des Gesamthaushalts ausmachten.
Die Hoffnung, bald die süddeutschen Staaten Baden, Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt in den Bund aufnehmen zu können, erfüllte sich nicht. In jenen Ländern war der Widerstand gegen das protestantische Preußen bzw. gegen den Bund mit seiner liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik groß. Das zeigte sich bei der Wahl zum Zollparlament 1868; diese Zusammenarbeit von norddeutschen und süddeutschen Abgeordneten im Zollverein trug aber zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands bei.
Nach einer diplomatischen Niederlage im Spanischen Thronfolgestreit begann Frankreich im Juli 1870 den Krieg gegen Deutschland. Es wollte damit ein weiteres Erstarken Preußens und eine deutsche Vereinigung unter seiner Führung verhindern. Allerdings hatten die süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg nach ihrer Niederlage im Deutschen Krieg von 1866 Verteidigungsbündnisse mit Preußen geschlossen. Daher und aufgrund ihrer besseren Organisation konnten die deutschen Heere den Krieg rasch nach Frankreich hinein tragen.
Durch die Novemberverträge von 1870 traten die süddeutschen Staaten dem Norddeutschen Bund bei. Mit der sogenannten Reichsgründung und dem Inkrafttreten der neuen Verfassung am 1. Januar 1871 ging der Bund im deutschen Kaiserreich auf.
Vorgeschichte bis 1866
Seit dem 18. Jahrhundert gab es neben der österreichischen Habsburgermonarchie eine weitere Macht in Deutschland, die eine Führungsrolle beanspruchte: Preußen, das im Jahr 1701 zum Königreich aufgestiegen war und unter anderem das an Bodenschätzen reiche Schlesien von Österreich erobert hatte. Das Verhältnis dieser beiden mitteleuropäischen Großmächte bezeichnete man als deutschen Dualismus, der von Rivalität, oft aber auch von Zusammenarbeit zu Ungunsten Dritter geprägt war.
Der von vielen Deutschen erwünschte Ausbau des Bundes oder gar der Übergang zum Bundesstaat wurde von Österreich und Preußen verhindert: Österreich sah wegen seiner eigenen Nationalitätenkonflikte einen deutschen Bundesstaat als Existenzbedrohung an, und Preußen wollte keine Weiterentwicklung des Deutschen Bundes, solange allein Österreich als „Präsidialmacht“ galt. Schon 1849 bemühte Preußen sich mit der „Erfurter Union“ erst um ein Kleindeutschland ohne Österreich, dann zumindest um einen norddeutschen Bundesstaat unter preußischer Führung. Aufgrund des Druckes Österreichs, der Mittelstaaten und Rußlands mußte Preußen diesen Versuch in der Herbstkrise 1850 allerdings aufgeben.
In der Folge kam es wieder zu einer Zusammenarbeit der Großmächte, die aber deutlich stärker von Rivalität überschattet war als in den Jahren 1815–1848. Nach 1859 machten beide Großmächte erfolglose Vorschläge zu einer Bundesreform. Eine Teilung Deutschlands in Nord und Süd gehörte auch dazu. Obwohl sie um 1864 im Krieg gegen Dänemark wieder gemeinsam gegen die deutschen Staaten agierten, waren sie alsbald in der Schleswig-Holstein-Frage zerstritten und trugen auch diesen Streit militärisch aus.
Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck bemühte sich mehrmals um einen Ausgleich mit Österreich, schließlich aber steuerte er Preußen auf die Konfrontation mit Österreich und notfalls den übrigen Staaten zu. Der österreichische Kaiser Franz Joseph I. wiederum war unbeeindruckt, hielt die Position Bismarcks in Preußen für schwach und schätzte seine eigene militärische Macht als unüberwindbar ein. So erwirkte Österreich am 14. Juni 1866 einen Bundesbeschluß des Bundestags über die Mobilmachung des Bundesheeres gegen Preußen.
Deutscher Krieg und Kriegsfolgen
Im Deutschen Krieg von 1866 siegte Preußen mit seinen Verbündeten jedoch gegen Österreich und dessen Alliierte (die Königreiche Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover, die Großherzogtümer Baden und Hessen, das Kurfürstentum Hessen und weitere Kleinstaaten). Im Vorfrieden mit Österreich (26. Juli) setzte Preußen durch, die Verhältnisse im Norden Deutschlands bis zur Mainlinie neu zu ordnen. Hier taucht auch zuerst der Ausdruck Norddeutscher Bund auf. Dieses Arrangement hatte Preußen zuvor bereits mit dem französischen Kaiser Napoleon III. abgestimmt.
Am 1. Oktober 1866 annektierte Preußen vier seiner Kriegsgegner nördlich des Mains: Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt. Die übrigen Staaten durften ihre Gebiete fast ohne Änderungen behalten. Durch die Einverleibungen stieg die Bevölkerungsanzahl Preußens von etwa 19 Millionen auf fast 24 Millionen.
Drei weitere Kriegsgegner nördlich des Mains, nämlich Sachsen, Sachsen-Meiningen und Reuß älterer Linie, wurden in den Friedensschlüssen dazu verpflichtet, sich dem Norddeutschen Bund anzuschließen. Das Großherzogtum Hessen mußte mit seiner Provinz Oberhessen sowie den rechtsrheinischen (rheinhessischen) Gemeinden Kastel und Kostheim dem Bund beitreten, die alle nördlich des Mains lagen.
Augustverträge und Konstituierender Reichstag
Am 18. August 1866 schloß Preußen mit 15 nord- und mitteldeutschen Staaten einen Bündnisvertrag mit doppeltem Zweck, der schließlich als „Augustbündnis“ bekannt wurde. Später traten weitere Staaten wie die beiden Mecklenburgs (Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz) dem Vertragswerk bei (daher „Augustverträge“). Zum einen bildeten sie ein Verteidigungsbündnis, das auf ein Jahr begrenzt war. Zum anderen war das Augustbündnis ein Vorvertrag zur Gründung eines Bundesstaats.
Grundlage sollte der Bundesreformplan vom 10. Juni 1866 sein, den Preußen damals den übrigen deutschen Staaten zugesandt hatte. Dieser Plan war aber noch sehr allgemein gehalten und bezog damals noch Bayern und das übrige Kleindeutschland ein. Dem Augustbündnis lag also noch kein eigentlicher Verfassungsentwurf vor, anders als dem Dreikönigsbündnis von 1849 für die Erfurter Union.
Im Augustbündnis war auch die Wahl eines gemeinsamen Parlaments vereinbart. Dieses würde bei der Verfassungsvereinbarung das norddeutsche Volk repräsentieren. Grundlage für die Wahl waren Gesetze der Einzelstaaten. Diese Gesetze übernahmen, absprachegemäß, das Frankfurter Reichswahlgesetz von 1849 fast wörtlich. Der Norddeutsche Konstituierende Reichstag wurde am 12. Februar 1867 gewählt und am 24. Februar in Berlin von König Wilhelm I. von Preußen eröffnet. Nach langen Verhandlungen nahm der im Berliner Palais Hardenberg tagende Reichstag bereits am 16. April den abgeänderten Verfassungsentwurf an und hatte tags darauf seine feierliche Schlußsitzung.
Bundesverfassung
Der Preußische Landtag und der konstituierende Reichstag waren von einer nationalliberal-freikonservativen Mehrheit beherrscht. Gerade die Nationalliberalen wollten ursprünglich eine möglichst radikale Lösung: Deutschland sollte ein Einheitsstaat unter preußischer Führung werden. Beispielsweise hätten die übrigen Staaten Norddeutschlands einfach Preußen beitreten sollen. Preußen mit seiner Militärmacht hätte sie dazu zwingen können. Bismarck hingegen suchte nach einer föderativen Lösung. Einerseits wollte er die süddeutschen Staaten und deren Fürsten nicht davor abschrecken, später ebenfalls beizutreten. Andererseits ging es ihm um seine eigene vermittelnde Rolle und damit um seine Machtstellung zwischen König, Landtag und verbündeten Staaten.
Als Folge dieser Überlegungen strebte Bismarck eine norddeutsche Bundesverfassung an, die ihre unitarischen Züge und auch die Macht des preußischen Königs verbarg. So weit wie möglich sollte der neue Bund äußerlich einem Staatenbund ähneln. Beispielsweise war die Militärmacht in der Verfassung einem Bundesfeldherrn unterstellt. Diese Bezeichnung stammte aus der Zeit des Deutschen Bundes; der preußische König hatte damals versucht, dauerhafter Bundesfeldherr des Bundesheeres oder zumindest der norddeutschen Bundestruppen zu werden. Die Verfassung machte allerdings an anderer Stelle deutlich, dass der Bundesfeldherr niemand anders als der preußische König war.
Geheimrath Maximilian Duncker hatte im Auftrag Bismarcks einen ersten Verfassungsentwurf ausgearbeitet. Nach mehreren Überarbeitungen durch Gesandte und Ministerialbeamte legte Bismarck selbst Hand an, und schließlich lag am 15. Dezember 1866 den Bevollmächtigten der Regierungen ein preußischer Entwurf vor. Die Bevollmächtigten hatten zum Teil erhebliche Bedenken, mal wünschten sie sich mehr Föderalismus, mal einen stärkeren Einheitsstaat. Bismarck nahm 18 Änderungsanträge an, die die Grundstruktur nicht anrührten, und die Bevollmächtigten stimmten am 7. Februar 1867 zu. Dieser Entwurf war dann ein gemeinsames Verfassungsangebot der verbündeten Regierungen.
Der Entwurf ging am 4. März dem konstituierenden Reichstag zu. Bei seinen Beratungen stimmte sich der konstituierende Reichstag eng mit den Bevollmächtigten der Einzelstaaten ab. Auf diese Weise kam es zu Kompromissen, auf die sich beide Seiten verständigen konnten. Am 16. April 1867 verabschiedete nicht nur eine Reichstagsmehrheit den abgeänderten Entwurf, sondern ihn billigten sogleich auch die Bevollmächtigten des Bundesrathes. Die Einzelstaaten ließen danach ihre Landesparlamente abstimmen und publizierten die Bundesverfassung. Dieser Prozeß dauerte bis zum 27. Juni. Am 1. Juli konnte die Verfassung vereinbarungsgemäß in Kraft treten.
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes ist, von einigen Bezeichnungen und Details abgesehen, bereits identisch mit der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, die bis 1918 angewandt wurde und seit dem 29. Mai 2008 wieder angewendet wird.
Bundesorgane
Dem König von Preußen stand das Präsidium des Bundes zu, auf einen Titel wie „Kaiser“ verzichtete man. Nicht dem Namen, aber der Sache nach war er das Bundesoberhaupt. Er setzte einen Bundeskanzler ein, der die Handlungen des Präsidiums gegenzeichnete. Damit war der Bundeskanzler der einzige verantwortliche Minister, also die Bundesregierung (Exekutive) in einer Person. Die Verantwortlichkeit ist nicht parlamentarisch zu verstehen, aber politisch.
Der Bundeskanzler erhielt zur Unterstützung seiner Arbeit eine oberste Bundesbehörde, das Bundeskanzleramt (es wurde später in Reichskanzleramt umbenannt und ist nicht mit der Reichskanzlei von 1878 zu verwechseln). In der Zeit des Norddeutschen Bundes wurde nur noch eine weitere oberste Bundesbehörde eingerichtet, das von Preußen übernommene Auswärtige Amt. Der Chef des Bundeskanzleramts und der Leiter des Auswärtigen Amtes waren keine Kollegen des Bundeskanzlers, sondern ihm als weisungsbefugte Beamte unterstellt. Bismarck widersetzte sich den Bestrebungen des Reichstags, regelrechte Bundesministerien einzurichten. In der Praxis bediente sich Bismarck oftmals der Zuarbeit der Landesministerien, zumal der preußischen, allein schon aus Mangel an einer eigenen personellen Ausstattung auf Bundesebene.
Die Gliedstaaten entsandten Bevollmächtigte in den Bundesrath. Diese Vertretung der Gliedstaaten war ein Bundesorgan, das exekutive, legislative und judikative Befugnisse hatte. Der Bund hatte kein Verfassungsgericht, aber der Bundesrath entschied über bestimmte Streitfälle zwischen und in den Gliedstaaten.
Der Bundesrath übte zusammen mit dem Reichstag das Gesetzgebungsrecht einschließlich der Haushaltsbewilligung aus. Diäten, also Abgeordnetenentschädigungen, waren laut Verfassung untersagt. Im Wahlrecht des Bundes war das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht verankert. Jeder Norddeutsche hatte in dem Wahlkreis, in dem er wohnte, eine Stimme für einen Kandidaten. Jeder Wahlkreis entsandte einen Abgeordneten in den Norddeutschen Reichstag. Im Mai 1869 kam das Bundeswahlgesetz zustande, das die Bestimmungen der Einzelstaatsgesetze von 1866 im Grunde beibehielt.
Vorsitzender des Bundesraths war der Bundeskanzler. An sich hatte er darin weder Sitz noch Stimme. Doch Bundeskanzler Bismarck war gleichzeitig preußischer Ministerpräsident. Auf diese Weise hatte er größten Einfluß auf die preußischen Stimmen im Bundesrath und damit auf den gesamten Bundesrath. Diese Ämterverbindung war in der Verfassung nicht vorgesehen, sie wurde aber fast in der gesamten Zeit des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches beibehalten.
Deutschland- und Außenpolitik
Trotz anderer Erwartungen zeigte es sich bald, daß eine Vereinigung Deutschlands kein Selbstläufer war. Bismarck meinte im Jahr 1869 daher, daß man nicht mit Gewalt vorpreschen solle, da man auf diese Weise höchstens unreife Früchte ernten könne. Durch Vorstellen der Uhr könne man die Zeit nicht schneller laufen lassen. In Süddeutschland mußten wegen der Heeresreform nach preußischem Vorbild die Steuern erhöht werden. In Baden konnte der Großherzog nur mit Notverordnungsrecht das Bündnis mit dem Norden durch das Parlament bringen. 1870 stürzte die Patriotenpartei des katholischen Landvolks den liberalen Ministerpräsidenten. In Hessen-Darmstadt hoffte der Ministerpräsident noch im Juli 1870 auf eine preußische Niederlage im Konflikt mit Frankreich.
Bismarck initiierte von Mai bis Juli 1867 eine Reform des Zollvereins, um die süddeutschen Staaten mehr an den Norddeutschen Bund zu binden. Aus dem „Verein unabhängiger Staaten“ (völkerrechtliche Staatenverbindung) mit Vetorecht wurde eine Wirtschaftsunion mit Mehrheitsbeschlüssen. Ein Veto als einzelner Staat hatte nur noch das große Preußen. Der Zollbundesrath war ein dem Bundesrath vergleichbares Organ mit Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten, daneben gab es ein Zollparlament. Es wurde nach dem Reichstagswahlrecht gewählt, wobei in der Realität der Reichstag um süddeutsche Abgeordnete erweitert wurde.
Die Wahlen zum Zollparlament fanden 1868 in Süddeutschland statt. Dabei stellte sich heraus, daß die Preußengegner noch viele Wähler repräsentierten. Die Stimmen richteten sich gegen die Dominanz des protestantischen Preußens oder gegen liberale Freihandelspolitik; teilweise ging es auch um innere Konflikte der Staaten. In Württemberg waren alle 17 Abgeordneten antipreußisch, in Baden 6 gegenüber 8 Kleindeutschen, in Bayern 27 gegenüber 21. Die meisten waren dem konservativen Lager zuzuordnen. Bismarck verstand, daß die Erweiterung des Norddeutschen Bundes um den Süden noch längere Zeit auf sich warten lassen könnte; gleichwohl hatte der Süden keine Alternative zur wirtschaftlichen Integration, denn 95 Prozent seines Handels verlief mit dem Norden.
Im Februar 1870 forderten die Nationalliberalen mit der „Interpellation Lasker“, das liberale Baden in den Bund aufzunehmen. Bismarck lehnte ungewöhnlich schroff ab: Dadurch würde der Beitritt der übrigen süddeutschen Staaten unwahrscheinlicher werden. Der Bismarck-Biograph Lothar Gall geht davon aus, dass dieser in erster Linie die bisherige Machtstruktur bewahren wollte und eine Aufwertung der Liberalen befürchtete. Dasselbe galt für eine nationale Volksbewegung.
Anfang 1870 weihte Bismarck König Wilhelm von Preußen in einen Kaiserplan ein. Demnach sollte Wilhelm zum „Kaiser von Deutschland“ oder wenigstens des Norddeutschen Bundes ausgerufen werden. Das sei eine Stärkung für die Regierung und ihre Anhänger im Hinblick auf die kommenden Wahlen und Beratungen des Militäretats. Außerdem sei „Bundespräsidium“ im diplomatischen Verkehr ein unpraktischer Titel. Ein Gedanke war auch, daß den Süddeutschen ein deutscher Kaiser annehmbarer sein könnte als ein preußischer König. Bismarck stieß mit dem Ansinnen aber auf Widerstand bei den übrigen Fürsten in Nord- und Süddeutschland, wodurch der Plan aufgegeben wurde.
Von der Gründung 1867 bis zum Aufgehen in das größere Deutsche Reich am 1. Januar 1871 war vor allem das Verhältnis zu den süddeutschen Staaten und zu Frankreich bestimmend. Mit Frankreich gab es eine Art Kalten Krieg, der von diplomatischen Krisen und Aufrüstung geprägt war. Die politischen Fronten, auch mit Süddeutschland, schienen 1870 erstarrt.
Militärpolitik
Deutsch-Französischer Krieg
Im September 1868 war in Spanien das Königshaus gestürzt worden, so dass das Übergangsregime einen neuen König suchte. Bismarck sorgte dafür, dass Leopold von Hohenzollern, ein Prinz aus dem süddeutschen Zweig der Hohenzollern, einer Kandidatur zustimmte. Als dies im Juli bekannt wurde, reagierte die öffentliche Meinung in Frankreich empört. Leopold zog seine Kandidatur zurück, und Frankreich hätte mit diesem diplomatischen Sieg zufrieden sein können. Napoleon III. beging aber den Fehler, vom Oberhaupt der Hohenzollerndynastie, dem preußischen König Wilhelm I., zu verlangen, eine solche Kandidatur für die Zukunft auszuschließen. Dies gab Bismarck in einer verkürzenden Darstellung, worin das französische Ansinnen und Wilhelms Ablehnung besonders schroff erschienen, an die Presse. Am 19. Juli erklärte Frankreich Preußen den Krieg.
Napoleon wollte den Deutschen das Recht der nationalen Selbstbestimmung nicht zugestehen. „Innere Unzufriedenheit nach außen abzulenken war von jeher ein bevorzugtes Herrschaftsmittel des Bonapartismus gewesen.“
Frankreich war isoliert, da die übrigen Mächte seinen Krieg nicht als gerechtfertigt ansahen. Die süddeutschen Staaten unterstützten entgegen Napoleons Erwartungen wegen der Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen den Norddeutschen Bund. Nach Abwehr des französischen Angriffs verlagerte sich das Kriegsgeschehen nach Frankreich. Bereits am 2. September, in der Schlacht bei Sedan, wurde Napoleon gefangen genommen, und sein Regime kapitulierte. Eine neue Regierung der Nationalen Verteidigung führte den Krieg bis zum 26. Januar 1871 weiter. Im Mai erfolgte der Frieden von Frankfurt. Frankreich mußte eine hohe Entschädigungssumme zahlen und Elsaß-Lothringen abtreten.
Übergang zum Deutschen Reich
Die süddeutschen Staaten Großherzogtum Baden, Königreich Bayern und Königreich Württemberg waren 1867 noch vollständig außerhalb des Norddeutschen Bundes, während Hessen-Darmstadt mit seiner nördlichen Provinz Oberhessen dazugehörte. Baden, Bayern und Württemberg schlossen im November 1870 Beitrittsverträge zum Norddeutschen Bundesstaat ab. Der Abschluß dieser Novemberverträge ermöglichte den Beitritt der Großherzogtümer Baden und Hessen (Südhessen) am 15. November 1870, des Königreichs Bayern am 23. November und des Königreichs Württemberg am 25. November 1870; zugleich vereinbarten die Verträge die Gründung eines „Deutschen Bundes“.
Durch Reichstagsbeschluß vom 10. Dezember 1870 erhielt dieser Bund den Namen Deutsches Reich. Dabei übernahm das Reich im Wesentlichen die Bundesverfassung von 1867. Somit entschied sich die deutsche Frage letztendlich unter Ausschluß Österreichs im Sinne der kleindeutschen Lösung.
Durch den Beitritt der Süddeutschen Staaten zum Bund entstand im staats- und verfassungsrechtlichen Sinne kein neuer Staat: Der reformierte Norddeutsche Bund existierte, nachdem seine Verfassung des Deutschen Bundes – nicht zuletzt wegen zwei voneinander abweichender Fassungen – redigiert wurde, durch Rechtskontinuität unter der Bezeichnung „Deutsches Reich“ fort. Die Reichsgründung war folglich nichts anderes als der Eintritt der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund.
Die weitaus überwiegende Zahl der Staatsrechtler geht bei der Gründung des Deutschen Reiches von der Identität zum Norddeutschen Bund aus. Somit ist das Deutsche Reich in die Rechtsnachfolge des Norddeutschen Bundes, ipso jure (kraft Gesetz, von Rechts wegen) eingetreten. Als Folge dessen galten die Gesetze des Norddeutschen Bundes im Reich fort.
Bundesgebiet und Norddeutsche
Die Gründung des Norddeutschen Bundes bewirkte, daß eine Reihe von Staaten aus dem Prozeß der Bildung eines deutschen Nationalstaats herausfielen. Dies waren Österreich, Liechtenstein, Luxemburg und Niederländisch-Limburg. Letzteres war überhaupt nur eine niederländische Provinz, die aus historisch-politischen Gründen dem Deutschen Bund angehört hatte. Luxemburgs Selbstständigkeit wurde im Zuge der Luxemburgkrise 1867 von den Großmächten bestätigt.
Der Norddeutsche Bund umfasste 22 Gliedstaaten, die in der Verfassung Bundesstaaten genannt wurden. Das Gesamtgebiet hatte 415.150 Quadratkilometer mit fast 30 Millionen Einwohnern. Von ihnen lebten 80 Prozent in Preußen. Dank Artikel 3 der Bundesverfassung genossen die „Norddeutschen“ ein gemeinsames Indigenat, so daß sie sich im Bundesgebiet frei bewegen konnten. Norddeutscher als Staatsbürger war, wer Staatsangehöriger eines Gliedstaates war.
Bundesstaat | Einwohner (1866) | Fläche in km² |
---|---|---|
Preußen, Königreich (Preußischer Staat) | 19.501.723 (mit den Annexionen von 1867: 23.971.462) | 348.607 |
Sachsen, Königreich | 2.382.808 | 14.993 |
Hessen, Großherzogtum (Hessen-Darmstadt), nur Provinz Oberhessen | 118.950 (1858) | 3.287 |
Mecklenburg-Schwerin, Großherzogtum | 560.274 | 13.162 |
Oldenburg, Großherzogtum | 303.100 | 6.427 |
Braunschweig, Herzogtum | 298.100 | 3.672 |
Sachsen-Weimar-Eisenach, Großherzogtum | 281.200 | 3.615 |
Hamburg, Freie Stadt | 280.950 | 415 |
Anhalt, Herzogtum | 195.500 | 2.299 |
Sachsen-Meiningen, Herzogtum | 179.700 | 2.468 |
Sachsen-Coburg-Gotha, Herzogtum | 166.600 | 1.958 |
Sachsen-Altenburg, Herzogtum | 141.600 | 1.324 |
Lippe, Fürstentum (Detmold) | 112.200 | 1.215 |
Bremen, Freie Stadt | 106.895 | 256 |
Mecklenburg-Strelitz, Großherzogtum | 98.572 | 2.930 |
Reuß jüngerer Linie, Fürstentum (Gera-Schleiz-Lobenstein-Ebersdorf) | 87.200 | 827 |
Schwarzburg-Rudolstadt, Fürstentum | 74.600 | 941 |
Schwarzburg-Sondershausen, Fürstentum | 67.200 | 862 |
Waldeck, Fürstentum | 58.400 | 1.121 |
Lübeck, Freie Stadt | 48.050 | 299 |
Reuß älterer Linie, Fürstentum (Greiz) | 44.100 | 317 |
Lauenburg, Herzogtum (mit dem preußischen König als Herzog) | 49.500 (ca. 1857) | 1.182 |
Schaumburg-Lippe, Fürstentum | 31.700 | 340 |
Dieser Bund allein war schon deshalb besonders, weil er erstmals seit Jahrhunderten wenigstens Norddeutschland ein staatliches Band gab. Der Bund wa rso ausgestaltet, daß er später den Beitritt Süddeutschlands zuließ. Im Bund kam es zu einigen Neuerungen im Parteiensystem, wie der Gründung des katholischen Zentrums, sowie einer Zusammenarbeit Bismarcks mit den Nationalliberalen und Freikonservativen.
Der Norddeutsche Bund gilt weniger als eigenständige Epoche denn vielmehr als Vorstufe zur „Reichsgründung“. Dazu trägt bei, daß der am 01. Juli 1867 gegründete Bund nur etwa drei Jahre lang existierte. Außerdem gibt es vom Bund zum Reich eine hohe Kontinuität, sowohl was die Verfassung als auch die wichtigsten Politiker wie Bismarck angeht.
Für Bismarck war es typisch, mehrgleisig vorzugehen. Seiner Meinung nach, so Andreas Kaernbach, kann man als Politiker eine von mehreren Lösungen wählen, sie aber nicht selbst hervorbringen. Er sah die Sicherung der preußischen Stellung in Norddeutschland als Grundlage der preußischen Unabhängigkeit an. Diese „Auffangstellung“, der Norddeutsche Bund, galt ihm aber nur als ein Minimalziel. Das letztendliche war das preußisch geführte Kleindeutschland, das er durch eine Bundesreform und ohne Krieg mit Österreich hatte erreichen wollen. Dieses Ziel schien zunächst in weiter Ferne zu liegen. Dennoch beurteilte er den Norddeutschen Bund als Zwischenstufe von eigenem Wert, mit „eigener Zukunft“. Der konservative französische Politiker Adolphe Thiers äußerte, für Frankreich sei die Gründung des Norddeutschen Bundes „das größte Unglück seit vierhundert Jahren“ gewesen.
Die Flagge ist schwarz-weiß-roth
Artikel 55 der Verfassung bestimmte die Flagge des Bundes: „Die Flagge der Kriegs- und Handelsmarine ist schwarz-weiß-roth“. Die Farbgebung wird Prinz Adalbert zugeschrieben, sie vereinigte Preußens Farben mit denen der Hansestädte und ihren Ansprüchen an den Seehandel. Am 1. Oktober 1867, drei Monate nach Verkündung des Norddeutschen Bundes, wurde auf allen preußischen Schiffen das Tuch mit dem Preußenadler eingeholt und die Schwarz-Weiß-Rothe Flagge gehißt. Im Jahr 1871 wurde die Flagge dann für das gesamte Reich übernommen.
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